Cannes 2021
Costa Rica und Tschad
Normalerweise findet Le Festival, wie sich der Filmtreff an der Côte d’Azur selbstbewusst nennt, im Mai statt. Nachdem es 2020 nur online streamen konnte, wollte man 2021 auf sicher gehen und hat den heiligen Termin verschoben. Und ja: Es fand statt. Im Gegensatz zu anderen Jahren glich der Palais des Festivals dieses Jahr allerdings teilweise einer Geisterstadt, weil viele Akkreditierte aus bekannten Gründen nicht reisen konnten und von zuhause aus an der hybriden Version des Festivals teilnahmen. Die Kinosäle hingegen waren gut gefüllt, persönliche Treffen zwischen Verleihern und Verkäuferinnen wieder möglich und die Motivation, Filmperlen zu finden und mit in die Schweiz zu bringen damit besonders gross.
Zwei haben uns besonders überzeugt. Klar waren wir gespannt auf den Wettbewerbsbeitrag des Filmemachers Mahamet-Saleh Haroun (Tschad), dessen Filme Un homme qui crie (2010) sowie Daratt (2006) wir herausgebracht hatten. In seinem neuen Film Lingui erzählt er die Geschichte einer jungen Mutter, deren jugendliche Tochter schwanger wird. Der streng muslimischen Gemeinschaft ist bereits die alleinerziehende Amina suspekt. Also soll die Schwangerschaft der jungen Maria nun vertuscht werden. Mutter und Tochter finden nach anfänglichen Differenzen zueinander und wehren sich mit Hilfe weiterer Frauen aus der Gemeinschaft gegen die sich unantastbar gebärdende Allmächtigkeit des Patriarchats. Mahamet-Saleh Haroun liefert ein engagiertes Plädoyer für die Kraft der weiblichen Solidarität und lässt uns eintauchen in eine Welt starker Frauen, die gemeinsam viel bewegen können.
Die Selbstbefreiung einer Frau steht auch im Zentrum des zweiten Films, den trigon-film herausbringen wird. In ihrem überzeugenden ersten Spielfilm Clara sola erzählt Nathalie Álvarez Mesén von Clara, die mit einer nicht näher definierten körperlichen Behinderung, die eigentlich operierbar wäre, geboren wurde. «Dios me la mandó así» (Gott hat sie mir so geschickt), sagt ihre Mutter und verweigert jegliche medizinische Behandlung. Clara, im Film um die 40, lebt überbehütet mit ihrer Mutter und der Nichte Maria in einem Bergdorf im ländlichen Costa Rica, sie hat eine starke Beziehung zur natürlichen und, laut Mutter, auch zur übernatürlichen Welt – ihr werden heilende Kräfte nachgesagt, im Dorf bringt man ihr viel Respekt entgegen. Nachdem sie über Jahre hinweg von der repressiven Fürsorge ihrer Mutter dominiert wurde, beginnt sie sich nach der Begegnung mit einem Mann langsam den religiösen und familiären Stricken zu entwinden und sich selbst zu entdecken. Ein visuell berauschender Erstling mit einer Prise magischem Realismus und dem hervorragenden Spiel von Laien. Die beiden Filme aus Cannes werden 2022 in die Schweizer Kinos gelangen.
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