Guatemalas Durst nach Filmen
Im Februar 2015 hat Jayro Bustamante an den Filmfestspielen Berlin den Silbernen Bären für seinen ersten Spielfilm «Ixcanul» gewonnen. Gleichzeitig hat sich mit dem Film ein lateinamerikanisches Land auf der Landkarte des Kinos eingetragen. Ein Blick auf die Situation des Kinos in Guatemala, wo Jayro Bustamante sich auch für die Verbreitung von Filmen über das Projekt eines Kino-Busses engagiert, und eine Momentaufnahme 2016.
«Das Kino ist zum Vermittler der Kultur par excellence geworden. Auf direkte Art erlaubt uns das Kino, in andere Welten zu reisen, in andere Kulturen, andere Zeiten, andere Realitäten, andere Lebensformen. Die Autoren können es schaffen, die kulturellen Grenzen zu überwinden, indem sie menschliche Geschichten erzählen. Das Kino bietet Möglichkeiten der Reflexion und lädt ein, Grenzen niederzureissen.» So fasst Jayro Bustamante seine Erfahrung mit seinem ersten Spielfilm zusammen. Der junge Filmemacher, 1977 in Guatemala geboren, weiss sehr genau, wovon er redet und warum er den Film gedreht hat, mit dem er nun erfolgreich auf der ganzen Welt unterwegs ist. Seine Mutter war Ärztin, als Bub lebte er mit ihr während Jahren in der Bergregion der Cakchiquel- Mayas. Mehr als 75 Prozent der indigenen Bevölkerung leben in ländlichen Regionen. Ihnen hat Jayro Bustamante ein Gesicht und eine Stimme gegeben, jene Sprache, die sie, wie man im Film eindrücklich sieht, zwar sprechen können, die aber von der weissen Minderheit, die das Land regiert, nicht verstanden wird.
Die Hauptfigur im Film heisst María, eine 17-jährige Maya, die mit ihren Eltern auf einer Kaffeeplantage am Fuss eines aktiven Vulkans lebt. Sie soll mit dem Vorarbeiter verheiratet werden, weil man sich dadurch mehr Sicherheit verspricht, aber María möchte die Welt jenseits des rauchenden Berges kennenlernen. Sie lässt sich von einem Kaffeepflücker verführen, der in die USA auswandern möchte. Als dieser sie alleine zurücklässt, entdeckt María ihre eigene Welt und Kultur noch einmal neu. Und wir mit ihr. Man spürt es in jeder Einstellung des Films, dass Jayro Bustamante das Leben kennt, von dem er erzählt. Guatemala ist ein Land, das in den Kinos der Welt nicht existierte. Strukturen für eine eigene Filmproduktion sind erst jetzt im Aufbau begriffen. Klar, dass der Erfolg von «Ixcanul» einen wichtigen Beitrag leistete: Nach aussen verschaffte er Visibilität, nach innen das Bewusstsein, dass Filme das Leben dokumentieren können, Geschichten erzählen und das kulturelle Selbstbewusstsein stärken. Und dass sie Botschafter sind.
Im Gegensatz zu anderen Ländern im südlichen Amerika hat Guatemala noch kein staatliches Filminstitut, das sich um die Förderung des eigenen Filmschaffens kümmert. Auch verglichen mit Andenländern wie Peru oder Ecuador, wo in den letzten Jahren stabile Strukturen entstanden sind und erfolgreiche Filme gedreht wurden («La teta asustada» von Claudia Llosa in Peru, «Que tan lejos» von Tania Hermida in Ecuador), hat Guatemala Aufholbedarf. Die Produzentin Pilar Peredo meint, es gebe zwar eine Filmschule, die aber privat organisiert sei und seit gut zehn Jahren existieren würde: «Das Land hat aber noch keinerlei Filmstrukturen, es gibt nicht einmal ein Filmgesetz, keine Abmachungen über Koproduktionen und auch keine privaten Geldquellen.» Einen Film hier auf die Beine zu stellen, sei eine echte Herausforderung. «Aber wir hoffen, dass sich die Dinge nun langsam ändern.» «Ixcanul» sei ein Ereignis geworden und «hat bewirkt, dass die Frage nach der eigenen Filmproduktion heute öffentlich gestellt wird». Dieser Meinungsumschwung hat natürlich mit der internationalen Beachtung zu tun, mit den weltweit gewonnenen Preisen – über beides haben die Medien berichtet. In der Schweiz startete der Film 2015 in den Kinos und hat es in kurzer Zeit bereits auf 10'000 Eintritte gebracht. «Ixcanul» war in der Produktion vom Fonds Vision Sud Est unterstützt worden und
wurde von der Stiftung trigon-film auch auf DVD herausgebracht.
Neugierig geworden, wollten die Leute in Guatemala den Film selber sehen. Mit «Ixcanul», sagt die Produzentin Pilar Peredo, «versuchten wir, möglichst viele Leute auch in entlegeneren Gebieten zu erreichen. Aber das heisst immer: Wir müssen die Leinwand und die ganze technische Infrastruktur mitbringen». In Guatemala finden sich heute gerade mal 19 Kinoeinrichtungen, nur sechs davon befinden sich ausserhalb von Guatemala City übers Land verteilt. Jayro Bustamante ist deshalb daran, ein Projekt umzusetzen, für das er immer noch finanzielle Mittel sucht. Er will einen Occasion-Bus kaufen und diesen in ein mobiles Kino umwandeln, damit die Filme, die im Land allmählich entstehen, auch tatsächlich zu den Leuten gelangen. Heute, sagt der Filmemacher, habe nur eine Minderheit Zugang zum Kino, aus Gründen der Erreichbarkeit aber auch aus finanziellen Gründen oder wegen der Sprachschranke. Der gängige Zugang zu Filmen im Land geschieht übers Fernsehen, und dort laufen US-amerikanische Serien, die mit der Wirklichkeit vor Ort nichts zu tun haben und höchstens falsche Träume schüren, von denen Bustamante in seinem Film auch erzählt. «Ixcanul» war der erste Spielfilm, der im Idiom der Mayas gedreht wurde. Wenig erstaunlich, dass er bei ihnen begeisterte Aufnahme fand. Gerade mal 120 000 Euros sucht Jayro Bustamante für seinen Bus, den Umbau und das erste Betriebsjahr inklusive Personal. Er soll in die Dörfer fahren und zu den Schulen, das Kino zu den Menschen bringen. Auch «Ixcanul» könnte in Guatemala noch breiter gesehen werden, aber auch weitere Filme, die gegenwärtig in Erarbeitung sind, etwa «Nuestras madres», der erste Spielfilm des Guatemalteken César Díaz, an dem bereits Frankreich und Belgien sich als koproduzierende Länder beteiligen wollen. Bustamante selber ist am Schreiben eines neuen Drehbuchs, das den Arbeitstitel «Temblores» trägt und das Augenmerk auf die Beziehung zwischen Vater und Tochter im städtischen, kulturell durchmischten Umfeld legt. In den Produktionsprozessen engagiert sich der Schweizer Fonds Visions Sud Est, über den die DEZA einzelne Projekte und die Bildung sowie Stärkung der Strukturen im jeweiligen Land fördern kann. Produzentin Pilar Peredo meint, dass der Beitrag an «Ixcanul» aus der Schweiz fundamental wichtig gewesen sei, damit der Film überhaupt unter bestmöglichen Bedingungen fertiggestellt werden konnte: «Die Bedeutung eines Fonds, der das Filmschaffen in einem Land wie Guatemala unterstützt, liegt darin, dass wir auf Organisationen zählen können, die uns erlauben, hier Filme zu drehen, unter lokalen Bedingungen, selbst dann, wenn diese nicht einfach sind.» Und etwas streicht die Produzentin ganz besonders hervor: «Eine Sache kann entscheidend werden in einem Fall wie Guatemala, und das ist die Ungebundenheit einer Unterstützung, die es erst möglich macht, die Mittel auch wirklich vor Ort einzusetzen und ohne Auflagen.» Das Land dürste wirklich nach Filmen, unterstreicht Jungregisseur Jayro Bustamante. Und man glaubt es ihm, denn er und sein Film strahlen diesen Durst nach eigenen Erzählungen und Erzählformen aus.
© Walter Ruggle, 2016