Jorge Sanjines

Der Che Guevara des Kinos
«Wenn die Menschen oder die Gesellschaft nicht mehr wissen, wer sie sind, stellt sich Verwirrung und als Folge davon Gewalt ein.» Jorge Sanjinés
Man hat ihn auch schon den Eisenstein des lateinamerikanischen Kinos genannt, doch der Vergleich hinkt. Während der Russe seine ganze Brillanz in den Dienst des Systems stellte, bleibt der 1936 in La Paz geborene Bolivianer Jorge Sanjinés Aramayo nur einem verpflichtet: dem Volk, den Hochlandindignen, den Bauern, Bäuerinnen und Bergarbeitern. Konsequent betont er in seinen Filmen den Gemeinsinn, lässt nicht Individuen Heldenrollen übernehmen, vielmehr Bewohnerinnen und Bewohner von Dörfern als vereinigt starke Kraft auftreten. Immer wieder mündet ein Geschehen in seinen Filmen in Bildern vom Strom der Menschen, die einen steinigen, steilen Weg beschreiten: Gemeinsam. Wenn also überhaupt ein Vergleich, dann wäre Jorge Sanjinés wohl der Che des Films. Er gehört zur Guerilla des Weltkinos, inszeniert seine Geschichten dermassen nah am Alltag, dass seine Spielfilme oft als Dokumentarfilme wahrgenommen werden. Sanjinés habe, erzählt ein Freund von ihm, beim Drehen einer Szene vor lauter Enthusiasmus auch schon vergessen, dass die Filmkassette in der Kamera aufgebraucht war.
«Das engagierte Kino», sagt Sanjinés, «ist ein Kino, das die menschliche Gesellschaft mit ihren Hoffnungen und Problemen in den Mittelpunkt stellt.» Probleme gibt es in einem zur Armut gezwungenen Land wie Bolivien genug, und da sie grösstenteils von aussen auferlegt werden, ist der Kampf dagegen um so schwieriger. Sanjinés studierte in La Paz und Santiago Philosophie und Film und drehte 1963 nach mehreren Kurzfilmen «Revolución!», der mit dem Prix Joris Ivens ausgezeichnet wurde. Es sind wortlose Betrachtungen der Lebensumstände seiner Landsleute mit der einen Bilanz: Wer sich nicht wehrt, geht unter. Er selber führte damals noch die Kamera: Sie war die Flinte des Guerillero. Nach seinem Film «El enemigo principal» (Der Hauptfeind, 1974) wurde er von den Faschisten, die im Verbund mit den USA die bolivianischen Minenarbeiter ausbluteten und aich mehrfach an die Macht putschten, zum Tode verurteilt. 50'000 Dollar waren auf seinen Kopf ausgesetzt. Sanjinés ging für Jahre ins Exil.
Jorge Sanjinés stellt die Welt der Aymaras und Quechuas in den Mittelpunkt von Filmen wie «Ukamau» (So ist es, 1968), «Yawar Mallku» (Das Blut des Kondors, 1969) oder «La nacion clandestina» (Die geheime Nation, 1989), der zu einem Schlüsselwerk des lateinamerikanischen Kinos wurde. Als Filmer will er Teil eines Bewusstseinsprozesses sein, der innen ansetzt. Kühn bewegt er sich in «La nación clandestina» zwischen Mythen und Realität, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Sie sind im Leben der Aymaras eins: «Unsere Vergangenheit wird Gegenwart, wir leben gleichzeitig in Vergangenheit und Gegenwart», sagt ein alter Indio. Er definiert damit auch die radikale Form, in der Sanjinés uns vor Augen führt, dass der Zeitbegriff dieses Volkes ein räumlicher ist. In «Fuera de aquì» (Weg von hier, 1977) üben Indio-Bauern eines Anden-Dorfes den Aufstand gegen den Ausverkauf ihrer Heimat, da die korrupte Regierung sich gegen die Ausbeutungspläne des multinationalen Konzerns, der das Land kaufen will, nichts unternimmt. Der Film rief all jene zum Widerstand auf, die sich nicht am Schaufeln ihres eigenen Grabes beteiligen wollten, kam jener alten Theatertradition nahe, die im Rahmen einer Dorfgemeinschaft ein aktuelles Thema durch seiner Darstellung aufgreift. «Las banderas del amancener» mündet im Schlusstitel: «Fin - Ein Volk, das aufrecht geht, endet nie.»
Wie ihnen von staatlichem Rechts wegen Unrecht geschieht, wie ihre Anklage umgekehrt werden soll in eine Anklage gegen sie, stellen die Menschen in «El enemigo principal» nach. Sie fragen sich: «Was schauen wir zu, ohne zu handeln?» Immer wieder filmt Jorge Sanjinés mit der Handkamera, mit der er sich frei unter die Leute mischen kann und einen hohen Grad an Authentizität im Spiel der Laien erreicht. Und immer wieder zeigt er die Schuldigen, in Bildern und Off-Texten wie im Fall von «El coraje del pueblo» (Der Mut des Volkes, 1971), wo die diversen Massaker, die an den Minenarbeitern verübt wurden, nachgestellt sind, oder durch die direkten oder indirekten Hinweise auf die wirklichen Drahtzieher der Ausbeutung, die im Norden Amerikas sitzen und als Ärzte in «Yvar Mallku» auftreten, wo sie Indias ungefragt sterilisieren. Die Perspektiven sind die der Menschen: Sie schauen von oben, wenn sie zusammengepfercht auf dem Laster transportiert werden, sie schauen von unten, wenn sie vor den Glasfassaden der Hotels und Konzerne in La Paz stehen. Nicht einmal das Geld für das Blut, das er für eine Operation brauchen würde, kann der Indio auftreiben, und so stirbt er im Spital.
«Ukamau», das Spielfilmdebüt (1966), beschrieb die Situation der Hochlandbauern. Es war der erste in Aymara gesprochene Spielfilm, und «Ukamau» - So ist es! - heisst auch die von Jorge Sanjinés gegründete Filmgruppe, die mit einem generatorbestückten Projektionswagen im Land herumreist und auch seinen späteren Filme wie «Para recibir el canto de los pajaros» (Der Gesang der Vögel, 1995) produzierte. Darin thematisiert Sanjinés die Schwierigkeit, Geschehnisse in einem Andendorf mit Mitteln des Kinos wiederzugeben anhand des seinerzeitigen Drehs von «Yawar Mallku». Er geht in der Selbstkritik soweit, seine Arbeit als Filmer mit der der eindringenden Konquistadoren parallel zu setzen, denn gestört wird die Kultur in einem Dorf auch so. Mit dem wesentlichen Unterschied: Stand damals Ausbeutung im Vordergrund, wurden die Bodenschätze von Minenorten wie Potosí jahrhundertelang abtransportiert, ohne dass die Bevölkerung etwas vom Reichtum gehabt hätte, so setzt Jorge Sanjinés in seiner Filmarbeit auf die Aufklärung, auf das Bewusstsein und den Stolz der eigenen Kultur. Und er versucht dem Volk übers Kino soviel zu geben, wie er von ihm erhält. Der Reichtum gehört dem Volk.
© Walter Ruggle
Filmographie
1960 Aysa (short)
1961 Sueños y realidades (Doc short)
1963 Revolución
1966 Ukamau
1969 Yawar Mallku - La sangre del condor
1971 El coraje del pueblo
1974 El enemigo principal (Jatun auka)
1977 ¡Fuera de aquí!
1981 Llocsi caimanta
1984 Las banderas del amanecer
1990 La nación clandestina
1995 Para recibir el canto de los pajaros
2004 Los hijos del último jardín
2012 Insurgentes (Documentary)
2016 Juana Azurduy, Guerrillera de la Patria Grande
2022 Los Viejos Soldados
Para recibir el canto de los pájaros (1995)
Der Zusammenprall zweier Kulturen und dies in gedoppelter Weise: Es ist ein Film über das Drehen eines Filmes, dessen Thema die Zerstörung der Kultur und die Grausamkeit der Spanier bei der Conquista ist. Die Konflikte, zu denen es zwischen dem Filmteam und den als Komparsen vorgesehenen Indigenen kommt, ähneln jenen, die Jorge Sanjinés beim Drehen von «Yawar Mallku» erlebt hatte. Weiter
La nación clandestina (1989)
"La nacion clandestina" heisst übersetzt "Die verborgene Nation". Der bolivianische Filmemacher, der zu den bedeutendsten des Kontinents zählt, tönt damit an, dass es in einem Land wie Bolivien, dessen gesellschaftliches und politisches Leben seit Jahrhunderten von den Nachfahren spanischer Eroberer und deren Kultur geprägt wird, noch immer eine starke innere "Nation" gibt, jene der Aymara-Indios. Weiter