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Filmbesprechung

Ein Tag in Mexico

Die siebenjährige Sol verbringt den Tag im Haus ihres Grossvaters, während die Familie eine Überraschungsparty für den Geburtstag von Sols Vater Tona vorbereitet. Es wird gekocht, gebacken, geputzt. Tona ist schwer krank, so dass selbst seine kleine Tochter von ihm ferngehalten wird. Die Feier wird Geburtstag und Abschied zugleich sein. Lila Avilés’ herzerwärmendes Familienporträt zeigt auf beeindruckende Weise, wie die mexikanische Kultur mit dem Tod umgeht und das Leben zelebriert.

Ein Sterbenskranker hat Geburtstag. Seine Familie bereitet für ihn ein Fest vor. Den ganzen Tag. Alle sind im Haus. Am Abend kommen Freundinnen und Freunde und lassen den Halbtoten noch einmal hochleben. Ende und Abspann. Oder anders gesagt: Ein einziger Tag in einem Haus, alle und alles dicht beieinander, Menschen, Tiere, Pflanzen, das Leben, der Tod. Das Universum in vier Wänden und in 90 Minuten. Das ist Tótem. Ein grandioses filmisches Mosaik aus Mexiko. Es ist der zweite Spielfilm von Lila Avilés, und er ist noch eindrücklicher als ihr preisgekrönter Erstling La camarista (Das Zimmermädchen).

Sol, ein siebenjähriges Mädchen, ist der Leitstern, der uns durch Avilés’ Mikrokosmos führt. In den ersten vier Minuten des Films, in einem Augenzu-Wünsch-Dir-Was-Spiel mit ihrer Mutter, sagt Sol: Ich wünsche mir, dass Papa nicht stirbt. Und sogleich denken wir im Kinosessel: Uff, das wird schwere Kost. Tod und Mexiko. Die meisten von uns verknüpfen damit Vorstellungen, die entweder mit schrecklichen Gewalttaten zu tun haben, oder mit dieser befremdlichen Eigenart, wie dieses Land den Tod und ihre Toten zelebriert.

Entwarnung! Tótem hat nichts mit dem Mexiko in unseren Köpfen zu tun und ist auch deshalb ein cineastisches Glanzlicht.

Viele Mexikos

Es gibt viele Mexikos. Das Land selbst ist ein Mosaik aus unterschiedlichsten Völkern, Kulturen, Sprachen und Vegetationen. Ein Land extremer Kontraste, vielfältiger und schöner, aber auch grauenerregender, als wir es uns vorstellen können. Lila Avilés führt uns ins Mexiko einer Minderheit: Das Mexiko der Güeritos. Weisse Hautfarbe, gute Bildung, obere Mittelschicht, die in diesem Land übrigens viel kleiner ist als sie selbst von sich glaubt. In dieser Klasse gibt man sich aufgeschlossen und modern, lebt scheinbar gut, in einer schönen Wohnung oder einem dieser Häuser aus besseren Zeiten, oft vererbt, irgendwo in einer besseren Gegend. Aber ständig fehlt das Geld. Habitus und Lebensstil stehen meistens in keinem Verhältnis zum Kontostand.

Nach diesen ersten vier Minuten mit Sol und ihrer Mutter gibt diese (sie muss zur Arbeit) ihre Tochter in einem Haus ab, das wir bis zum Ende des Films nicht mehr verlassen werden. Und was sich in diesem Haus vor unseren Augen auftut, abspielt und zusammenfügt, könnte man als das grosse Melodrama bezeichnen, das unser Dasein nun mal ist. Alles entsteht und vergeht. Das Leben beginnt, ohne dass wir gefragt werden, und endet irgendwann. Vielleicht glücklich und erfüllt, vielleicht leidvoll und tragisch, im hohen Alter oder schon viel früher. Wie im Falle von Tona, einem jungen Künstler, todkrank, Krebs. Tona ist der Vater von Sol. Das Haus, irgendwo in einem ruhigen Quartier in der Megametropole Mexico-City, ist Tonas Elternhaus. Er liegt abgemagert und geschwächt in einem verdunkelten Zimmer, im Bett, in dem schon seine Mutter gestorben ist. Auch sie an Krebs. Sol will nichts anderes, als bei ihrem Papa sein. Aber sie darf nicht zu ihm. Ihre Tanten verbieten es ihr. Sie sagen, er müsse sich ausruhen, damit er am Abend aufstehen mag für sein Geburtstagsfest.

Die einzige Person, die bei Tona sein darf und muss, ist Cruz, die Haushälterin. Sie kümmert sich um den Schwerkranken, pflegt ihn, macht Übungen mit ihm, schleppt ihn ins Bad, hilft ihm beim Anziehen, macht alles. Sie tut es mit viel Liebe und Zuneigung. Die wenigen Worte, Gesten und die Vertrautheit zwischen den beiden deuten an: Cruz ist schon lange in diesem Haus, vielleicht schon seit Tonas Geburt, hat ihn und seine Geschwister aufwachsen sehen, sie womöglich grossgezogen, ist für sie wie eine zweite Mutter oder mehr. Das ist nicht ungewöhnlich in Mexiko, vor allem in den Kreisen, in denen die Regisseurin ihre Film-Familie situiert. Kreativ-intellektuelles Milieu. Man ist oft mit sich selbst oder irgendwas Höherem als dem banalen Alltag beschäftigt.

Auch Tonas Mutter war Künstlerin, sein Vater, Roberto, ist ein schrulliger und mürrischer Psychoanalytiker, dem alles zu viel ist. Er möchte nur seinen Bonsaï pflegen oder seinem Beruf nachgehen. Seine Praxis ist in einem Zimmer. Da hat er eine verzweifelte und heulende Klientin vor sich, aber es ist schwierig, an diesem Tag in Ruhe zu arbeiten.

Filmstill Tótem
Gross und Klein in den Vorbereitungen zum Fest

Geldscheine zerschneiden

Ausser im Sterbezimmer geht es im Haus ziemlich lebendig bis chaotisch zu und her. Tonas Geburtstagsfest muss vorbereitet werden. Tante Nuri ist in der Küche mit Backen und ihrem heimlichen Trinken beschäftigt und mit ihrer kleinen bezaubernden Tochter Esther. Die will alles gleichzeitig: der Mama helfen, auf dem Kühlschrank hocken, dem Büsi Kaffee einflössen; sie macht dabei das Chaos nur noch grösser. Tante Alejandra hat auch alle Hände voll zu tun. Muss sich noch ihre Haare färben, telefonieren, ihre zwei herumhängenden pubertierenden Sprösslinge zum Aufräumen zwingen und mit der von ihr aufgebotenen spirituellen Raumreinigerin durchs Haus düsen. Schlechte Energie und den herumschwirrenden Geist der toten Mama vertreiben.

Die schwafelnde Schamanin räuchert mit improvisierter Fackel die Gänge und Zimmer aus. Roberto verscheucht sie genervt. Die kleine Esther, die gerade mit einer Schere Banknoten zerstückelt, weil ihr Grosspapa auch mit der Schere am Bonsaï herumschnippelt, fragt ihn, warum ihre Tante und diese komische Frau mit einer brennenden Semmel auf einem Stock durchs Haus schleichen. Grossvater antwortet «weil sie verrückt sind» und sagt seiner Enkelin, sie solle bitte keine Geldscheine zerschneiden. Onkel Napo kommt zu spät, weil er für seinen kranken Bruder Tona in der Stadt noch gesunde Biosachen einkaufen musste. Er bringt auch einen Goldfisch in einem Plastiksack mit, ein Geschenk für seine Nichte Sol. Sie tauft ihn Nugget. Napo versammelt alle im Wohnzimmer für eine Gruppensession Quantentherapie. Damit gute Energie entsteht für Tona und das Fest am Abend. Die Kinder müssen ihre Handys auf Flugmodus stellen.

Das klingt nach einer turbulenten Familienkomödie rund ums Sterben. Ist es aber nicht. In keinem Moment.

Künstliche Intelligenz

Tótem ist ein stiller Film. Erzählt aus der Sicht von Sol. Das neugierige und gescheite Mädchen (eindrücklich gespielt von Naíma Sentíes) streift verloren durchs Haus, vermeintlich unbeteiligt und in sich gekehrt. Doch Sol hat ihre Augen und Ohren weit offen. Sie beobachtet ruhig und scharf, hört genau zu, was im Haus alles vor sich geht, was die Erwachsenen alles so tun und reden und vor allem wie sie reden. Man ist stets bemüht, liebevoll zueinander zu sein, auch wenn man genervt und dünnhäutig ist. Zuversichtlich bleiben, obwohl es hoffnungslos und himmeltraurig ist. Nur nicht die Fassung verlieren! Nicht heute, nicht an Tonas Geburtstag.

Sind die Kinder in der Küche zugegen, sprechen die Erwachsenen in Codewörtern, wenn sie von Morphin und Chemotherapie reden. Tona selbst will nur noch Ersteres, für Letzteres würde ohnehin das Geld fehlen. Cruz wartet auch schon länger auf ihren Lohn. Schönreden und verheimlichen geht schon lange nicht mehr, und die Kinder, nicht nur Sol, haben eh längst begriffen, wie die Dinge stehen. Wenn die süsse Esther bei Mutter auf dem Schoss sitzt und mit ihr die Torte anpinselt, sagt sie wie aus dem Nichts heraus: «Mami, ich will nicht, dass du trinkst.» Die Mutter sagt: «Nur heute, mein Liebes, es ist Tonas Geburtstagsfest, da darf man.»

Sol ist schweigsam. Nur hie und da fragt sie etwas. In welchem Bett im Haus ihre Oma gestorben sei und in welchem nun ihr Vater liege. Wann sie denn nun zu ihm dürfe. Für die grossen Fragen konsultiert das Mädchen die Künstliche Intelligenz im Handy. Sie fragt Chat GPT, wann die Welt untergeht. Wenn Sol nichts mehr hören will, verschanzt sie sich in einer Kissenburg, stöbert in Grossmutters verwaistem Atelier herum oder wendet sich den anderen Lebewesen im Haus und Garten zu. Dem Papagei oder den Schnecken in ihren Häuschen. Die Tiere, Hunde, Katze, Bienen und allerhand sonstige Insekten gehören ebenso zur Familie wie die Pflanzen, die überall wuchern.

Filmstill Tótem
Aus der Perspektive des Mädchens Sol ist der Film erzählt

Der Kosmos im Kleinen

Tótem ist eine Kosmovision im Kleinen. Wir sehen, wie Sol – respektive die Regisseurin – die Welt sieht und versteht. Menschen, Pflanzen, Tiere, das Leben und der Tod, alles geht fliessend ineinander über, gehört zusammen. Zeit und Raum sind unendlich, ein faszinierendes Kontinuum, und Lila Avilés führt uns dies mit einem gekonnten Umkehrtrick vor Augen, in dem sie sich filmisch radikal und konsequent beschränkt. Auf das alte 4:3-Filmformat, auf einen einzigen Drehort, auf Nahaufnahmen (wir sehen nie, wie gross oder klein das Haus, dessen Räume und der Garten sind, und gerade deswegen tun sich in jeder Szene und Einstellung Welten auf), auf einen einzigen Tag im Leben dieser Familie. Ein Tag ist lediglich ein Augenblick im Leben und gleichzeitig kann dieser eine Ewigkeit dauern. Wie für Sol. Sie muss bis am Abend warten. Dann endlich darf sie ihren Vater sehen und in seine Arme fallen. Im intimsten Moment des Films hört man draussen im Garten die Gäste plaudern. Die Freunde sind schon alle da.

Tona sehen wir den ganzen Film hindurch nur selten, aber seine abwesende Präsenz ist in jeder Sekunde spürbar, auch in den heiteren und komischen Momenten. Tonas heranschleichender Tod legt über alle und alles einen beklemmenden Schatten und bringt gleichzeitig vieles ans Licht. Wir nehmen alles wahr, mit Sols Augen, auch das, was im Verborgenen bleibt. Am Ende, beim Abspann, fragt man sich verblüfft und beinahe erleichtert: Wie kann es sein, dass man in 90 Minuten einen Tag lang das volle Leben mitbekommen hat, obwohl sich doch alles um den Tod gedreht hat? Vielleicht schafft dieses Kunststück nur ein Film aus Mexiko, einem Land, in dem man am «Día de Muertos» einen Tag lang die Toten feiert, als wären sie nie gestorben.

Der Trailer zum Film
portrait Lila Avilés

Lila Avilés:

Lila Avilés ist eine unabhängige mexikanische Regisseurin, Drehbuchautorin und Produzentin. Sie gründete ihre eigene Produktion Limerencia Films im Jahr 2018 und wurde auf Anhieb mit ihrem ersten Spielfilm La Camarista (Das Zimmermädchen, 2018) bekannt. Der Film wurde unter anderem ausgew…

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